Ein Bollywood-Film auf der Berlinale?


Ohrenbetäubende Stille herrscht im Saal, als der Film zu Ende ist. Das hatten die Zuschauer so nicht erwartet.

Sairat spielt in Indien und erzählt die herzzerreißende Geschichte zweier Liebender aus unterschiedlichen Kasten, denen es dadurch verboten ist, sich zu lieben, geschweige denn zu heiraten. Generell ist die wahre Liebe in Indien nur sehr selten. Die jungen Leute werden zwangsverheiratet, von „Liebeshochzeit“ spricht man, wenn sich die beiden schon seit der Kindheit kennen. Kein Wunder also, dass sich der indische Filmmarkt auf dieses Thema stürzt und in zahlreichen Bollywood-Filmen verarbeitet.
So auch in Sairat.

Wer bisher noch nie eine Bollywood-Produktion gesehen hat, denkt vermutlich zunächst, er sitze im falschen Film. Während der ersten Hälfte des dreistündigen Films wird nämlich schönster und theatralischster Bollywoodstil geliefert.

Der arme Protagonist Parsha ist unsterblich in die schöne, leider aus einer reichen Kaste kommende Aarchi verliebt. Unterstützt von dramatischer Musik, emotionalen Slow-Motions und völlig übertriebener Ausdrucksweise versucht er in paradiesischen Szenen, ihr Herz zu erobern. Die total kitschige Musik, in der er davon spricht, dass sie sein Ein und Alles ist, bringt schonmal den halben Kinosaal dazu, völlig perplex und entsetzt ob solcher Bollywood-Dramen in krampfhaftes Lachen auszubrechen. Sitznachbarn blicken sich fassungslos an, versuchen ihr Kichern zu unterdrücken.

Nachdem Parsha es auf charmante, lustige und sehr unterhaltsame Weise geschafft hat, Aarchis Herz für sich zu erobern, zeigt der nächste Abschnitt des Films, wie unsterblich verliebt die beiden ineinander sind. Natürlich wieder hinterlegt mit dramatischer Musik und total kitschig dargestellt – Bollywood eben.
All dies führt dazu, dass das ungeübte Bollywood-Publikum den Film nicht ganz ernst nehmen kann.
Dennoch werden wunderschöne Szenen der Freundschaft dargestellt, die der Zuschauer auch als solche wahrnimmt und schließlich - wenn man sich mal an das ganze Bombastische des Bollywoods gewöhnt hat und sich darauf einlässt - einen dazu bringen, die Geschichte als doch ganz süß zu akzeptieren.

Vom Zuschauer zunächst unbemerkt schlägt der Film nun allerdings doch recht bald um. Er ist sehr ernst geworden. Nichts ist mehr von dieser übertriebenen Dramatik zu spüren.
Parsha und Aarchi mussten fliehen, um nicht von ihren Familien ihrer unziemlichen Liebe wegen, umgebracht zu werden. Sie werden verstoßen, haben keine Chance zurückzukehren, ohne umgebracht zu werden.
Vom Dorf in die Stadt sind die beiden mit der neuen Situation zunächst völlig überfordert, gehen naiv mit fremden Typen mit, die das arme Mädchen vergewaltigen wollen und haben Glück, dass sie gerade noch von einer Frau gerettet werden.
Sie finden Unterkunft im Slum, eine Situation, mit der gerade Aarchi, aus reichem Elternhaus kommend, nicht zurecht kommt. Die beiden streiten sich. Eine unglaubliche Hoffnungslosigkeit liegt über ihnen.
Aus ihrem alten Leben gerissen scheint es keinerlei Aussicht auf eine positive Zukunft für die beiden zu geben. Auch ihre Beziehung leidet. Sie streiten nur noch, sind völlig überfordert.
Das ist der Teil, der berlinaletauglich ist.

Doch nur allzu bald kehrt die dramatische Musik zurück. Vielen fällt erst jetzt auf, dass sie gefehlt hat. Einige Zuschauer verlassen genervt den Saal. Das war dann doch zu viel für sie.
Schade eigentlich, denn das Ende kommt dann doch etwas unerwartet und gibt dem Film im Nachhinein nochmal eine echt andere Bedeutung.

In seiner Filmbeschreibung kommt Sairat so harmlos daher, bietet letztendlich aber doch einen kritischen Blick auf die indische Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Auf diese Einsicht muss man zwar fast zweieinhalb Stunden warten, gibt aber dem Film schließlich das ausschlaggebende Etwas.

Mit seinen 170 Minuten Spielzeit ist Sairat zwar mit Abstand der längste Film im 14Plus Programm. Dennoch schafft er es, nicht langweilig zu werden. Er ist sehr unterhaltsam und wenn man sich einmal an den Bollywoodstil gewöhnt hat, zeigt er auf wunderschöne Weise, wie es ist, verliebt zu sein.

Nun bin ich selbst kein Bollywood-Experte – habe vor diesem bisher nur einen weiteren Bollywoodfilm gesehen – dennoch kann man ihn sicherlich nicht als typisch für diese Szene bezeichnen.
Zum einen liegt das natürlich an dem berlinalmäßigem Zischenteil, zum anderen an der starken Frauendarstellung.
Aarchi ist ziemlich taff, macht in ihrer Beziehung den ersten Schritt und rettet Parsha sogar. Auch werden sie von einer Frau aus ihrer unglücklichen Situation gerettet. Eine Frau ist es, die ihnen hilft, wieder auf die Beine zu kommen.

Der Regisseur arbeitet sehr stark mit der Illusion des Bollywood. Geschickt gliedert er diesen etwas anderen Bollywoodfilm in dieses Genre ein, um ihm dem ahnungslosen Publikum unterzumogeln, bis es erst ganz zum Schluss die wahre Bedeutung des Films erkennt.
Nagraj Manjule hat sich also viel Mühe gegeben, den Film zu tarnen, damit er ihn auch in Indien präsentieren kann. Er hofft, so die Menschen auf die tragischen Liebesfälle zwischen zwei Kasten hinzuweisen, die doch in Indien alle paar Wochen in den Zeitungen stehen, deren Bedeutung aber keiner wirklich zu begreifen scheint. So sei es nun eben. Gegen diese Kastenunterschiede könne man nichts machen.

Alles in allem kann ich Sairat also nur empfehlen. Nehmen Sie sich diese drei Stunden Zeit. Lassen Sie sich auf Bollywood ein, denn im Nachhinein wird Ihnen dieser Film viel Stoff zum Nachdenken liefern. Sairat ist sicherlich ein Film, an den man sich noch lange wird erinnern können.

19.02.2016, Sarah Gosten

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