Das Tagebuch der Anne Frank

In einem Saal voller Erwachsenen, die sich und ihren Gefühlen keine Blöße geben wollen, ist es fast den ganzen Film über, die letzten zehn Minuten aber am bemerkbarsten, unglaublich still. Als der Abspann beginnt, hat niemand die Kraft, so viel zu klatschen, wie dieses Werk es verdient hätte. Benommen sitzen alle in ihren Stühlen, kaum jemand redet, viele wischen hastig ihre Tränen weg. Es ist ein Segen, dass Regisseur Hans Steinbichler eine knappe Viertelstunde damit beschäftigt ist, jedes anwesende Crew-Mitglied auf die Bühne zu holen und sich bei zahlreichen Menschen zu bedanken, da es sich um die Weltpremiere des Filmes handelt, bevor das Wort an die Publikumsfragen übergeben wird. Denn es braucht eine ganze Weile, bis sich die Zuschauer wieder einigermaßen unter Kontrolle haben.

Worum es beim Tagebuch der Anne Frank geht, weiß wohl jeder. Die Geschichte von Anne, die sich zwei Jahre lang mit ihrer Familie und vier anderen in einem Hinterhaus in Amsterdam vor den Nazis versteckte und Tagebuch schrieb, ehe sie 1944 nach Auschwitz deportiert wurde, ist schließlich weltbekannt. Und auch wenn man weiß, wie diese Geschichte ausgeht, bleibt das Ende ein Schock.

Mit Lea van Acken wurde die Rolle der Anne perfekt besetzt. Wenn ich vor Dienstagabend an Anne Frank dachte, dann war das mit Distanz. Anne war für mich ein weit entfernter Mensch, ein Mythos. Ein Mädchen mit einem schrecklichen Schicksal, wie es viele im Zweiten Weltkrieg erlitten. Doch dabei blieb es auch. Lea van Acken hingegen gibt ihrer Rolle von der ersten, bereits sehr intensiven Szene an etwas Menschliches. Sie holt Anne in unsere jetzige Zeit, lässt sie auf einmal ganz nah und real erscheinen, was es unheimlich schwierig macht, sich emotional nicht komplett auf den Film einzulassen und dadurch die Contenance zu verlieren. Statt lediglich einer tragischen Heldin lernen wir ein trotziges, selbstbewusstes und intelligentes Mädchen kennen, das sich einfach nicht unterkriegen lässt. Dass Anne Frank ihre komplette Pubertät in einem Hinterhaus eingeengt und ohne Privatsphäre verbrachte, dass sie sich nicht damit begnügen wollte, versteckt an einem Tagebuch zu schreiben und nichts anderes zu tun, und stattdessen die gleichen Gedanken wie jeder andere Teenager verfolgte, vergisst man nur allzu leicht. Nicht mehr nach diesem Film.
Auf authentische Art und Weise führt Lea dem Zuschauer vor Augen, dass auch Anne nur ein Mensch war. Mit jeder Szene tun sich neue Facetten ihres Charakters auf, das Publikum verfolgt ihre Entwicklung, die gesamte Pubertät, und schließt Anne unbewusst ins Herz. Man weiß, worauf all das letztendlich hinausläuft. Und doch ertappt man sich dabei, wie man hofft, es wäre anders.

Mit beeindruckender Kameraführung wird die Enge des Hinterhauses fast spürbar eingefangen. Das ständige Zwielicht während trister, sich ewig ziehender Tage, die Helligkeit und der Sonnenschein während der wenigen Lichtblicke.
Zahlreiche Close-Ups ermöglichen intensive Szenen, vor allem mit Anne, beziehungsweise Lea van Acken. Die meiner Meinung nach wirksamsten Shots waren jedoch die Bilder der verlassenen Wohnung ganz am Ende des Filmes.

Überhaupt ist es das Ende, das einen als Zuschauer am meisten mitnimmt. Hier wurde einfach alles richtig gemacht. Ob es nun die Musik war, die bereits erwähnten Aufnahmen der überstürzt verlassenen Wohnung, die Szenen im Konzentrationslager oder dass bei den Informationen, was mit den Untergetauchten geschah und wie sie umkamen, ihre glücklichsten Momente aus dem Film eingeblendet wurden. Jede Minute ist hart zu schlucken und man kann sich nicht einmal mit den Worten „wenigstens ist es nur ein Film“ beruhigen. Denn das ist es ja gerade, was diesen Film ausmacht - das Einfangen der knallharten Realität, das Gefühl der Nähe zu Anne Frank, die immer so weit entfernt schien.

Eine beeindruckende Verfilmung, vor allem angesichts der Erwartungen, die für mich an diesen Film gekoppelt waren. Ausnahmslos jeder sollte diesen Film zumindest einmal gesehen haben. Egal, ob man das Tagebuch an sich wirklich gelesen hat. Kaum etwas hat es so grandios bewerkstelligt, mir die Grauen der NS-Zeit so deutlich vor Augen zu führen.

18.02.2016, Johanna Gosten

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