"Du bist schlau, du hättest in einer reichen Familie geboren werden sollen."

Ottaal erzählt die Geschichte des achtjährigen Kuttappayi, der mit seinem Großvater durch den Süden Indiens zieht, um Entenschwärme zu hüten und ihre Eier auszubrüten. Sie bleiben nicht länger als ein paar Monate ein einem Ort, schlafen auf selbstgebauten Bambushütten über dem Wasser und es scheint, als lebten sie ihr Leben trotz der Armut in vollen Zügen. Kuttappayis Eltern nahmen sich - wie man im Laufe des Filmes erfährt - wegen zu hoher Schulden das Leben, so ist Kuttappayis Großvater sein einziger Angehöriger, der sich aber liebevoll um ihn kümmert. Er tut das bestmögliche, um seinem Enkel ein leichtes und behütetes Leben zu schaffen, lehrt ihm Dinge der Natur und will ihn gut auf ein späteres Leben vorbereiten. Doch bald wird klar, dass Kuttappayi, der Freundschaft mit einem reichen Schuljungen aus der Gegend Freundschaft geschlossen hat, mehr will, als nur ein Leben in der Natur. In ihm wächst immer mehr der Wunsch zu lernen und zur Schule zu gehen. Doch aufgrund der Armut kann sich Kuttappayis Großvater keine Schulbildung für ihn leisten, der sich dazu noch wegen seines voranschreitenden Alters und einer Erkrankung um Kuttappayis Zukunft sorgen muss, die ohne ihn wenig positiv verlaufen würde.

Der Regisseur Jayaraj bringt dem Publikum mit Ottaal das Schicksal tausender indischer Kinder näher. Auf erschreckend nahkommende aber zugleich leichte Art bringt er die immer noch gravierenden gesellschaftlichen Probleme Indiens der Chancenungleichheit, Kinderarbeit und Kastengesellschaft in einem Film zusammen, der das gesamte Publikum fesselt. Mit Ashant Sha, einem sehr authentischen Schauspieler für Kuttappayi, der es schafft, die doch sehr ernste Thematik auf sachte und unbefangene Weise den jungen Zuschauern nahe zu bringen, und paradiesisch schönen Bildern Südindiens, lässt der Film das Publikum in die Geschichte eintauchen und regt jeden zum Nachdenken an.

Doch Ottaal tut viel mehr, als nur das: Er lässt seine Zuschauer mitlachen, weinen und leiden, und berührt auf eine Art und Weise, die man kaum in Worte fassen kann. Von Anfang an ahnt der Zuschauer eine düstere Wendung und begreift das schreckliche Schicksal vieler Kinder dieser Welt, doch lässt der Film die Zuschauer mitfiebern und von Kuttappayis einzigartiger Selbstlosigkeit und Lebenslust verzaubern und anstecken. Gegen Ende wird sicherlich der ein oder andere ein paar Tränen losgeworden sein, bewusst von dem eigenen Glück, in einem Land voll Reichtum und Sicherheit geboren zu sein, und mit einem flauen Gefühl im Magen, daran denkend, wie ungerecht das Leben in einigen Ländern noch immer ist.

Die enorme Wirkung, die der Film beim Publikum hinterlassen hat, wird auch durch den fünfminütigen Applaus bestätigt, der nach dem letzten Schnitt von Ottaal ausbricht und auch noch anhält, als der Vorhang fällt und der Saal wieder erleuchtet wird. Jeder Zuschauer will dem Regisseur und vor allem dem kleinen Ashant für ihren Film danken und immer mehr erheben sich von ihren Sitzen, um ihre Begeisterung zu zeigen. Eine Kulisse, die man selbst bei der Berlinale selten zu sehen bekommt und auch den letzten Zweifler ganz und gar ergreift.

23.02.2016, Clara Bahrs (Gastschreiberin)

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